In der vorletzten Woche drehten amerikanische Küchenchefs, Gastgeber der Spitzengastronomie und kulinarische Produzenten in ihren Arbeitsstätten ein 30-Sekunden-Video, in dem sie sich mehr oder weniger überschwänglich darüber freuten, einen der 23 diesjährigen Preise der James Beard Foundation gewonnen zu haben. Die Aufnahmen waren als Dankesreden für den 25. September bestellt, wenn die ehrenwerte Gesellschaft in New York per virtueller Zeremonie via Twitter ihre Awards verleiht. Sie haben in den USA den Rang von Gastro-Oscar’s und ehren den herausragenden Koch und das beste neue Restaurant sowie ein Lebenswerk und das humanitärste Konzept, die süffigste Weinkarte und den krossesten Bäcker…
In der letzten Woche erhielten alle Strahlemänner und -frauen eine lapidare Rundmail: Die Preisverleihung ist abgesagt, nach „gründlichen internen Überlegungen und Beratungen mit der Branche und den Sponsoren“. Dass sie sich zu früh und vergebens gefreut haben, führten die Betroffenen und die Gastroszene gleichsam reflexartig auf die vermaledeiten Corona-Auswirkungen zurück. Doch schnell sickerte aus der Foundation und ihren Nominierungskomitees durch: Nach Bekanntgabe der potentiellen Preisträger im Mai sei, vor allem im Juli und August, im Internet eine Empörungswelle hochgeschwappt. Restaurantmitarbeiter hätten ihre Chefs wegen sozialer oder sexueller Verfehlungen angeprangert und dadurch Gäste aufgewiegelt, und die Black Lives Matter-Bewegung habe auch die geringen Erfolgsaussichten schwarzer Köche auf irgendwelche Auszeichnungen hochkochen lassen. Auch der 25. September wäre kein schwarzer Tag geworden. Die Oscar-Verleiher fürchteten einen Shitstorm.
Die Absage ist vorläufiger Höhepunkt eines Grollens in der US-Foodszene, dass sich Europäer nicht mit Logik, sondern mit amerikanischer Denkwelt von heute erklären können. Wird in Deutschland im Zusammenhang mit den Virus-Folgen für die Gastronomie über die finanziellen Schäden des Lockdowns, den Mindestabstand der Tische und andere hygienische Verordnungen diskutiert, wird bei der Fragilität der Restaurantbranche in den USA auch bitterlich erörtert, dass überproportional Schwarze, Farbige und die in Restaurantkritiken nie gewürdigten weißen Mitarbeiter in Küche und Service betroffen sind. Dazu kommen Einflüsse aus den Bewegungen #MeToo und Black Lives Matter, die vor allem übergriffige und herablassende Starköche alias weiße Männer attackieren (die auch noch vorwiegend Speisen aus Westeuropa anrichten) und den generellen Unmut der Beschäftigten mit Arbeitsbedingungen und Besoldung in der Branche verstärken.
All das rührte die Food-Journalistin Alicia Kennedy in ihrem wöchentlichen Newsletter unter dem Titel „Über Restaurants und den Tod des Chefs“ zusammen und kam zu dem Schluss, dass sich die Restaurantkultur grundlegend ändern muss, angefangen bei der völligen Verklärung des Chefs. Nachdem sich in knapp zwei Stunden dazu 2500 Follower geräuspert hatten, erkannte die frühere Redakteurin von New York Magazine und Food & Wine sowie Betreiberin einer Bäckerei diese neuen Arbeitsschwerpunkte: Für die Zukunft von Restaurants ist ein antikapitalistisches food system vonnöten und die Community statt des Chefs entscheidend. Frau Kennedy: „Ungefähr eine Million Dinge müssen sich an den Lebensmittel- und Restaurantsystemen ändern, als erstes können wir den Chefs die heiligsprechenden Fernsehsendungen und all die Bestenlisten wegnehmen“.
Wer das für eine Einzelmeinung hielt, wurde von der New York Times mit der Schlagzeile irritiert: „Twilight of the Imperial Chef“. Eingeleitet wird die Abdankung der Kochkönige mit einem ebenso langen wie tiefen Bedauern darüber, dass der Küchenchef jahrzehntelang im hellsten Licht stand, alles andere und alle anderen im belanglosen Schatten blieben – von Wolfgang Puck bis Ferran Adrià. Nur aufgrund dieser Fokussierung konnte laut Autorin Tejal Rao, die in L.A. als kalifornische Food-Korrespondentin ihrer Zeitung residiert, unter der Tischdecke der Kochstars bleiben, dass Marco Pierre White junge Köche zur Strafe in Mülleimer stieß, Jean-Georges Vongerichten arbeitsrechtlich folgenlos einen altgedienten Spüler schlug oder Mario Batali noch zwei Jahre amtierte, nachdem ihn mehrere Frauen sexueller Belästigung und Körperverletzung bezichtigt hatten.
Zuvor hatte die „Emmy“-Preisträgerin Meghan McCarron, die für Eater und Fox News kulinarische Artikel und TV-Beiträge liefert, das aus Frankreich importierte Erfolgsrezept der Cuisine d’auteur (Autorenküche) hinterfragt, mit der echte Kochkünstler durch ihren eigenen schöpferischen Stil Furore machen. Sie befand, dass darin weiße männliche Köche, die bereits gut in das Stereotyp des Autors passen, überrepräsentiert sind und für ihre hochspezifische Herangehensweise an gehobene Küche gelobt und dann mit mehr Investitionen und Möglichkeiten belohnt werden, immer so weiter zu machen. Das zeige auch die Homogenität der Bestenlisten von James Beard Foundation, Michelin und the World’s 50 Best Restaurants. Sie werden als die einzigen Architekten für den Erfolg eines Restaurants angesehen. Hingegen würden so viele andere Arten von Gastronomie niemals für Auszeichnungen oder Investitionen in Betracht gezogen, weil sie kein Küchenchef-Idol haben oder anstreben – von Gemeinschaftsfarmen mit Imbissständen über Foodtrucks bis zu Familienrestaurants, in denen sich drei verschiedene Köche am Herd abwechseln, um ihre Kinder betreuen zu können.
Gemeinsames Fazit der Autorinnen: Restaurants und ihr Ruf sind die Arbeit von Teams, den Köchen und Geschirrspülern, den Kellnern und Tablettträgern. Jeder spiele eine Rolle für den Erfolg eines Restaurants. Für Tejal Rao von der New York Times wird die hufeisenförmige Bar Somni in dem von Philippe Starck designten SLS Beverly Hills-Hotel dem Gemeinschaftsgedanken gerecht: Auf der Menükarte steht jeder Mitarbeiter. „Diese kleine, vielsagende Geste fordert die Gäste auf, das Restaurant als Ganzes zu betrachten – als ein Kollektiv mit vielen arbeitenden Menschen über den Küchenchef hinaus.“
Keine solch einfache oder allgemein schmackhafte Problemlösung fand die James Beard Foundation. Da sie sich außerstande sah, die erhobenen Vorwürfe gegen Nominierte kurzfristig zu klären, und es nicht wagte, die Preisträgerliste kurzerhand durch weitere Abstimmung verdaulicher zu machen, blieb ihr nur die kurzfristige Absage – und die Resignation, die ein Foundation-Mitglied so erklärte: „Im Land herrscht eine giftige Küchenkultur“. Deshalb wird bis 2022 kein Starkoch einen Küchen-Oscar bekommen.
Foto: Courtesy Muck Rack