„Hochqualitativen Food-Journalismus mit hoher kulinarischer Kompetenz“ will der Burda Verlag in seinem heute erscheinenden Gault & Millau 2021 servieren. Deswegen hat er als neuer Herausgeber die bisherige Guide-Praxis verändert. Er präsentiert zwar wie die Vorgänger 1000 Adressen. Bewertetet aber nur noch 500 Restaurants mit 15 bis 19,5 Punkten und beschreibt sie in mehr oder weniger langen neuen Texten. Die übrigen 500 gibt’s als punktlose Empfehlungen in knappen Texten, die zumeist den Eindruck erwecken, als seien diese Restaurants, Ausflugslokale, Gasthäuser, Weinbars etc. gar nicht getestet worden. Wie aus den folgenden, beliebig vermehrbaren Beispielen ersichtlich, scheint man nonchalant Texte aus der letzten Ausgabe eingekürzt und um die rot markierten Wörter ergänzt zu haben, die nicht als Erkenntnisse aus Testbesuchen auffallen, sondern bloß den Eindruck eines Blicks auf die Homepage oder einer simplen Umformulierung erwecken:
•St. Georges in Dieterode: In seinem heimeligen Fachwerkhaus im Eichsfelder Frau-Holle-Land setzt der frankophile Koch-Autodidakt Dr. Werner Freund unbeirrt seine Idee vom kleinen, feinen französischen Restaurant um. Freund präsentiert seine Menü-Ideen am Tisch. Bei vier oder mehr Personen empfiehlt er gern ein größeres Gericht, das oft im hauseigenen, mit Holz befeuerten Steinofen gegart wird: eine Ente à l’orange beispielsweise. Bis der Hauptgang fertig ist, werden die Gäste mit diversen kleinen Leckereien beglückt, etwa Blätterteig mit getrüffelter Gänseleber nach Elsässer Art. Ein wirklich besonderes Restaurant.
•Rait’ner Wirt in Schleching: Dieses Bilderbuch-Gasthaus liegt im 240 Seelen-Dorf Raiten, einer Gegend, wo der Chiemgau am schönsten ist. Hier lässt man sich Schwammerl-Risotto oder gebratene Kalbsleber schmecken. Die Küche ist immer nah an der Natur und der Region, so bringen in der Steinpilzsaison Sammler die duftenden Schätze aus den umliegenden Wäldern täglich ins Haus. Wer sich den Erzeugnissen des Hofbräuhauses Traunstein oder der kleinen, stimmigen Weinauswahl ausgiebiger widmen möchte: Es gibt sehr schöne Gästezimmer im zeitgemäß alpinen Look.
•Raabe in Mühlhausen:Das Boutiquehotel samt Gourmetrestaurant gehört zu den restaurierten Schmuckstücken der Altstadt. In der Jugendstilvilla setzen eine antik wirkende Holztreppe und die avantgardistisch anmutende Bar kontrastierende Akzente. Aus der Küche kommen vergleichsweise klassische, handwerklich durch die Bank einwandfreie Gerichte – gelegentlich etwas arg modisch inszeniert. Maître-Sommelier Michael Achilles empfiehlt souverän die passenden Begleiter – ob die hauseigene Cuvée von Kloster Pforta zur Suppe oder Tokaji Szamorodni zum Dessert.
Meinten Burda und der neue Chefredakteur, Dr. Christoph Wirtz, auch diese Text-Praxis des nach wie vor rund 40 € kostenden Guides, als sie nach Übernahme der Lizenz gebetsmühlenartig Neuerungen verkündeten: „Der Gault & Millau wird künftig deutlich journalistischer als kritischer, kompetenter und völlig unabhängiger Lotse durch die Qualitätsgastronomie in Deutschland“?
Das völlig unabhängige Urteilen wird sicherlich nicht dadurch beeinträchtigt, dass sein Chefredakteur im Handelsregister des Amtsgerichts Freiburg mit der CWC – Christoph Wirtz Consulting GmbH eingetragen ist (HRB 713081), die „Beratung und Dienstleistung in den Bereichen Public Relations, Marketing und Kommunikation einschließlich der Entwicklung und Umsetzung langfristiger oder projektbezogener Konzepte in den Bereichen Food & Beverage, Hotellerie & Gastronomie“ anbietet, oder dass er Festredner ist, wenn der höchstdekorierte Küchenchef Christian Bau eine Ehrung erhält. Es verhilft aber dem Gault & Millau vielleicht dazu, dass er bei Bau als dem einzigen Spitzenkoch in der Lage ist, über den künftigen Küchenstil zu orakeln: die herausfordernde Vereinbarung der japanischen Beschränkung auf Reduktion und Konzentration mit der großen französischen Klassik. Dass Baus größter Konkurrent, Klaus Erfort in Saarbrücken, letztes Jahr im Gusto abgewertet wurde, für den Wirtz damals laut eigener Aussage bei Erfort testete, und nun im Gault & Millau die Höchstnote einbüßte, hat sicherlich nur rein kulinarische Gründe.
Verwundert darf man über andere Gault & Millau-Bewertungen sein, wenn dessen neue Tester die Kompetenz ihrer Urteile selbst in Frage stellen, in dem sie die Bewertung als Ergebnis eines einmaligen Besuchs schildern. Obwohl sie bei Manfred Schwarz in Kirchheim „aufgrund eines Missverständnisses“ nicht die Gerichte des „Gourmetbetriebs“ probieren konnten, sondern mit denen des „Urgeschmacks der Pfalz“ vorliebnehmen mussten, bewerten sie ausdrücklich das Gourmetrestaurant mit 15 Punkten. Im Hirschen in Sulzburg, dessen Note auf 18 Punkte erhöht wurde, aßen die Tester nur das Fischmenü – und weil ihnen das wohl selbst nicht zur gesicherten Urteilsbegründung reichte, bestellten sie zwischendurch noch ein Tatar. Und wenn in Königsbronn „leider unsere Reservierung verwechselt“ wurde und man deshalb im Gasthaus statt im Gourmetrestaurant essen musste, dann „hoffen wir, dass wir nächstes Mal mehr Glück haben und setzen die Bewertung aus“.
Manchmal geben sie zu, dass sie beim Testen lieber an ihr Wohlbefinden als die Interessen ihrer Leser denken. In Koblenz fanden sie in Schiller’s Manufaktur für die Erhöhung auf 17 Punkte und zur Information der Leser weder Käse noch Dessert nötig, sondern nahmen lieber ein Stück getrüffelten Gänseleber-Gugelhupf. Ihre Kompetenz offenbaren sie auch in der Hofstube in Schmallenberg, wenn sie mitteilenswert finden: „Man schaut in die offene Küche, wo das im Umfang variable Menü à la minute vollendet und angerichtet wird.“ Ebenso sinnig ist für die Leser dieser Satz zur Speisemeisterei in Stuttgart: „Den Autor der letztjährigen Kritik dieses Führers mag es freuen, dass sein Wunsch nach mutiger Würze erhört wurde.“ Tieferer Einblick in Tester-Eitelkeiten wird im Hirschen in Remchingen geboten: „Nach der Lobhudelei in der letztjährigen Ausgabe – inklusive Hochstufung – stimmte uns traurig und machte uns nachdenklich, was als lieblos angerichtete Vorspeise vor uns stand.“ Der Schöpfer dieses Gerichts darf in einem Text aus Limburg hinreichend Wiedergutmachung empfinden, falls alle Leser diesen Satz über einen dortigen Koch verstehen: „Stilistisch muss er in dem Spagat zwischen Fehling-Filigranität und Nagy-Rustikalität noch mehr seine eigene Richtung finden.“
Nicht jedem begreiflich könnten Sätze wie diese sein: „Uns scheint, als habe Küchenchef Torsten Michel ebendort nochmals einen Schub erhalten, denn, ohne Küchenpsychologie: Hier – das ist ganz seins!“ – „Gedankt sei dem Herrn, dass knusprig gebratener Schweinebauch und gegrillter Pulpo … durch Zartheit und abgestimmte Würzung ins gewohnt tiefgeschmackliche Fahrwasser zwischen Gasthausrustikalität und Gourmetanspruch zurückkehrten.“ – „Beim Dessert aus Schokolade, Sanddorn und nicht wahrnehmbarer Tonkabohne glänzte die Küche mit Handwerk und Komplexität.“ – „Bekäme dieses Haus ein Schulzeugnis, es kriegte lauter Zweien – und hätte, aller mathematischen Logik zum Trotz, in der Summe eine Eins verdient.“
So kennerisch ist die FAZ auch, wenn sie Wirtz sagen lässt: „Es gibt keine Exekutionen und nichts Persönliches mehr.“ Ob das auch die Köche und Kellner finden, die Folgendes über sich lesen? „Einbruch der Banalität“ (und das bei 18 Punkten!), „ahnungs- und kopfloser“ oder „mitleiderregend unsicherer Service“, „die ‚in Zusammenarbeit mit dem Weinhändler‘ entwickelte Karte zeigt ein entsprechend uninspiriertes Sammelsurium meist mittelmäßiger Tropfen“. Und der vorne im Guide als Gastgeber Geehrte nimmt es ganz gewiss nicht persönlich, wenn er hinten über seine Gerichte liest: „„Nicht alles, was aus der Küche kommt, ist von höchster Verfeinerung geprägt, manches vertrüge auch handwerklich ein wenig mehr Sensibilität und akkuratere Garpunkte“. Weniger profund fällt hundertfach das Positive aus: Statt detaillierter Würdigung liest man pauschales Lob wie wunderbar oder herrlich in diesem Guide öfter als in den letzten zehn Ausgaben zusammen. Bei größerer Wortmächtigkeit „zeigt sich die Küche voll auf der Höhe“, „zaubert (Kalbstafelspitz mit Meerrettich-Terijaki) eine positive Verzückung auf unsere Lippen“ oder ist „ein fast monochromes Feuerwerk, das nicht bunt glitzerte“ als subtile Anerkennung gemeint.
Sucht man nach einem kulinarischen Credo dieses neuen Gault & MIllau, dann findet man es auf Seite 585, wo einem Koch eine Schmährede in den Mund gelegt wird: gegen allzu üppige mediale Elogen für „Pinzetten-Köche“ und andere vermeintliche Nichtskönner, gegen fusselbärtige Hipster, die ihre hochartistischen Fermentationsergebnisse unter staunendem Beifall einer urbanen Jüngerschaft auf genderneutralen Töpferwaren verabreichen, oder gegen wildtätowierte Zwanzigjährige, die sich im strahlenden Instagram-Glanz an einer Neuerfindung des heißen Wassers versuchen. Dem folgt die redaktionelle Anmerkung, dass der Koch „nicht ganz unrecht hat“. 55 Seiten weiter outet sich die Wirtz-Equipe nach einem „animierend klassischen Menü“ mit Terrine von der Gänseleber, provenzalischer Fischsuppe, Atlantik-Seezunge ‚Müllerin‘ und Rehrücken unverklausuliert: „Ein echtes Sehnsuchtsziel für Menschen mit intaktem gastronomischem Sensorium… Wenn wir wieder mal irgendwelchen modernistisch-gequirlten Mist mit großer Geste und philosophischem Überbau vorgesetzt bekommen, träumen wir von diesem Hirschen!“
Wer nach Alternativen oder Gleichgesinnten des Hirschen sucht, findet auf den Seiten mit den Restaurantkritiken auch bis zu 40% unbedruckten weißen Raum. Von diesem ungewohnten Erscheinungsbild versuchen die Buchmacher mit 64 bunten Postkartenfotos aus deutschen Städten und Landschaften abzulenken. So sieht man in Berlin zwar kein einziges Gericht aus den bewerteten Restaurants, aber sechs Stadtansichten.
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