Kim Severson, 59, Leiterin des Südstaaten-Büros der New York Times, Pulitzer Prize-Trägerin 2018 und seit über 20 Jahren kulinarische Autorin, wagte sich in die schwarze Kunst: Trends vorherzusagen, ist jedes Jahr ein zweifelhaftes Vergnügen, aber all jene, die sich mit kulinarischen Prognosen beschäftigen, saßen noch nie vor einer Szenerie, die schwerer zu deuten ist als 2021. Die meisten Prognostiker sind sich einig, dass die Pandemie und die stotternde Wirtschaft kommendes Jahr zu keinen kuriosen Lebensmitteln oder exzentrischen Küchenstilen führen werden. Es wird keinen Nusret Gökçe alias Salt Bae der nächsten Generation geben, auch keine mit Cannabis-Infusionen gepimpte Poke Bowl Donut Ramen Tacos, die für Instagram optimiert werden könnten. Aber irgendwann sind erholte Restaurants und Kreativität zurück. Die größten Optimisten glauben, dass der Korken bis zum Sommer aus der Flasche schießt. „Wenn wir die Welle eines beschissenen Winters reiten können, wird es wieder wie in den goldenen Zwanziger Jahren sein“, glaubt Andrew Freeman vom Marketing- und PR-Profi fürs Gastgewerbe af&co I carbonate in San Francisco.
Andere sehen einen viel langsameren Übergang, in dem das wiederentdeckte häusliche Kochen beliebt bleibt und sich zögerliche Gäste in eine radikal andere Restaurantlandschaft als jene wagen, die sie letztes Frühjahr verließen. Wirtschaftlich wird es 2021 zwei Welten geben: Unabhängige Restaurants werden wahrscheinlich in mehr oder weniger großen Schwierigkeiten bleiben, Ketten wie Domino‘s und McDonald‘s hingegen profitabel; zum einen werden sich Gäste, die beschäftigt und gesund durch die Pandemie kamen, danach sehnen, wieder Geld in Restaurants auszugeben, zum anderen werden Legionen von Amerikanern (darunter 2,3 Millionen aus der Gastronomie) arbeitslos oder in finanziellen Schwierigkeiten sein und nicht an Restaurantbesuche denken. „Es wird grässlich“, fürchtet Kara Nielsen, Direktorin für Essen und Trinken bei WGSN, einem globalen Unternehmen für Trendprognosen.
Hier Entwicklungen, die Prognostiker, Marktforscher und Wissenschaftler für 2021 erwarten:
Lieferservice: Bis vor einem Jahr verdarben die Essenslieferanten mit ihren Geschäftsprinzipien, dem Verpackungsabfall und der verbleibenden Küchenarbeit den Appetit. Dann ließ die Pandemie den Lieferservice wieder eine gute Idee zu sein – so gut, dass die Köche ins Spiel kamen und ihre Gäste. Die hatten Appetit auf ihre Lieblingsrestaurants, wollten sie sie im Geschäft halten und machten die Lieferungen zu einem Hit in allen Preisklassen. Nun wird dieser Service neu ausgerichtet, da immer mehr Restaurants ihre eigenen Systeme für die Online-Bestellung entwickeln, neue Technologien und Apps nutzen, die Essensgüte und Kundenvorlieben berücksichtigen sowie die Umstände des Lieferns oder Abholens mit einem Hauch von Gastfreundschaft versehen. In nicht allzu ferner Zukunft werden vorausschauende Technologie und neue Bestellplattformen, die mit Daten aus einer Vielzahl von Restaurants gefüllt sind, etwas hervorbringen, das so einfach und intuitiv zu bedienen ist wie Netflix, glaubt Michael Wystrach, Gründer und Geschäftsführer von Freshly, das frisch zubereitete Mahlzeiten in Restaurantqualität liefert.
Getränke aus Dosen: Schon in den letzten Jahren füllten Craft Brewer ihre Biere zunehmend in Aluminiumdosen ab, weil die besser (als Flaschen) für die Umwelt und fürs Bier sind. 2020 kam eine wachsende Begeisterung für Weine und Cocktails in Dosen auf. Sie enthalten jetzt sogar schon harten Kombucha (als Alkohol-Alternative) und Breakfast Seltzer, einen Mix aus alkoholischen Cocktails und Kaffee. Der Boom könnte das Recycling von Dosen beschleunigen und die Herstellung verbessern.
Gemüse des Jahres: Lebensmittelprognostiker salben immer ein Gemüse, das im neuen Jahr Top Trend ist. 2017 war es Chicorée, 2019 Celtuce, das chinesische Spargelgemüse. 2021 tut‘s jedes Gemüse. Alle Lebensmittel und Aromen mit einem Wellness-Heiligenschein dürften sich bestens verkaufen, insbesondere Gemüse. „Das in den letzten Jahren erwachte Gesundheitsbewusstsein bei der Ernährung bleibt munter“, verkündet Jenny Zegler, stellvertretende Direktorin für Lebensmittel und Getränke beim globalen Marktforschungsunternehmen Mintel.
Geschmack des Jahres: Basque Burnt Cheesecake. Dieser krustenlose Käsekuchen, der in einem sehr heißen Ofen gebacken wird, damit die Oberseite karamellisiert und das Innere weich und wackelig bleibt, kam in den 1990er Jahren aus San Sebastián. Einige amerikanische Eliteköche modifizierten ihn nun in die Mainstream-Esskultur, die bis nach Singapur reicht.
Essen fürs Schlafzimmer: Die Ära des Energy Drinks ist vorbei. Stress und Angst des Jahres 2020 schufen einen neuen Markt für Lebensmittel und Getränke, die Entspannung und Schlaf fördern sollen. Foodkonzerne suchen „nach allem, was sie den Schlaf- und Meditations-Apps and -Tees hinzufügen können“, beobachtet Jenny Zegler von Mintel. So bietet Pepsico als Driftwell ein Wasser, das mit Magnesium und L-Theanin angereichert ist, einer Aminosäure, die den Geist ohne Schläfrigkeit entspannen soll. Im Schokoladenknabberzeug Goodnight sollen Wirkstoffe beim Schlafen helfen, das Eis namens Nightfood enthält als Betthupferl schlaffördernde Mineralien, Verdauungsenzyme und wenig Zucker.
Heimischer Geschmack: Da internationaler Tourismus entfällt und die Amerikaner auch im eigenen Land weniger lange Reisen unternehmen, wird der neue Fokus auf die Heimat eine hyper-regionale Küche forcieren. Das bedeutet auch wiedererwachendes Interesse an heimischen Barbecue-Vorlieben, lokalem Mineralwasser und Käse, Fischarten aus nahegelegenen Gewässern und Süßigkeiten der Region.
Lesenswerte Etiketten: Aus wachsendem Interesse an Produkten mit natürlichen (und weniger) Inhaltsstoffen werden Verbraucher verstärkt Etiketten beachten, die über die amtlich vorgeschriebenen Produktinformationen hinausgehen. Unternehmen im Besitz von Frauen und Farbigen werden ebenso ein stärkeres Kaufargument wie der gefällige ökologische Fußabdruck.
Bleibende Lockdown-Gewohnheiten: Online-Lebensmitteleinkauf, direkte Bestellung bei ländlichen Lieferanten, wachsendes Ver- und Zutrauen in häusliches Kochen und Brotbacken sowie Freude an Küchentechniken und Küchengartenarbeit. „Selbst nach der Wiedereröffnung der Restaurants wird die Menge der zu Hause gekochten und zubereiteten Speisen um 30 Prozent größer sein als früher“, prognostiziert Keith Knopf, Chef von Raley‘s mit 126 Lebensmittelgeschäften in Kalifornien.
Foto: Little Grace Bakery, New York