Einen Tag vor der französischen Präsidentschaftswahl veröffentlichte Alain Ducasse in Le Monde einen Beitrag, in dem er einerseits mit dem Pariser Plaza Athénée abrechnet, das letztes Jahr seine nicht saalfüllende Dreisterne-Küche der Naturalité durch den populären Traditionalismus des unbesternten Jean Imbert ersetzte, und sich anderseits als den großen Visionär der französischen Küche anpreist:
„Das kulinarische wie auch das politische Frankreich scheinen mir heute mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft zu blicken, als ob unsere Küche dazu bestimmt scheint, zu den Rezepten von einst zurückzukehren. In der Tat scheinen die von Auguste Escoffier (1846-1935) und der Küche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geerbten Fertigkeiten ein mächtiges Comeback auf unseren Speisekarten zu feiern.
Ich will ihre Bedeutung und ihren Genuss nicht leugnen, frage mich aber, ob die heutige Küche auf ihre Vergangenheit reduziert werden kann. Sollte sie nicht vielmehr ein Experimentierfeld sein, das der Kreation förderlich ist? Sind wir bereit für eine französische Küche, die einen avantgardistischen Ansatz bevorzugt?
Die Gastronomie hat mir so viel gegeben, dass mich ihre Rückläufigkeit nicht gleichgültig lassen kann. Aus dieser Vorliebe für die Rezepte der Vergangenheit lese ich eine Absage an Innovation und den Verzicht auf ein geschmackvolles und mutiges Morgen heraus. Ich sehe einen Rückschritt, nostalgisch und sehr bequem.
Notwendige Entwicklungen
Die Suche nach neuen kulinarischen Horizonten ist der einzig mögliche Weg, die Küche voranzubringen und ihr die nötige Energie zu verleihen, um den sich ändernden Appetit der heutigen Konsumenten zu befriedigen. Dieser Fortschritt muss auch die Einschränkungen in unserer Ernährung berücksichtigen, die die Erhaltung unseres Planeten fordert.
Diese kulinarische Rückwärtsgewandtheit neigt dazu, die wesentlichen Herausforderungen zu verschleiern und die notwendigen Entwicklungen zu blockieren. Wie andere kreative Berufe ist auch das Kochen ein lebendiges Metier, das offen für Einflüsse, neue Praktiken oder modernste Technologien bleiben muss. Die aktuelle Mode kann nicht nur aus den alten Skizzen der großen Couturiers des New Look definiert werden. Auch die Architektur geht mit der Zeit, wie die atemberaubenden Projekte von Jean Nouvel zeigen.
Man muss die Augen für die Welt offenhalten, um das Wissen anderer Länder geduldig in den gemeinsamen Topf der Gastronomie einzubringen. Die französische Küche ist eine Meisterin auf diesem Gebiet: Sie versteht es perfekt, dieses Wissen zu integrieren, was sie immer interessanter macht.
Ich weiß genau, dass Frankreich heute eine ganz außergewöhnliche Dichte an kulinarischen Talenten aufweist. Dieses gastronomische Angebot erstaunt und begeistert mich immer wieder. Ich treffe talentierte Köche, Frauen und Männer jeden Alters und jeder Nationalität, die in Paris und den Regionen die Herausforderungen der heutigen Zeit mutig mit ihrer unternehmerischen Fähigkeit annehmen.
Treffende Analogie
Die heutige französische Küche erscheint mir vielfältiger und relevanter als in vielen Epochen unserer reichen gastronomischen Geschichte. Sie scheint mir perfekt an die modernen Zeiten angepasst zu sein, die uns zu immer mehr Agilität zwingen. Diese vibrierenden Kräfte setzen sich vor allem für eine fortschrittliche Vision unseres Landes ein. Als Integrationsinstrument und Sprachrohr unserer Landwirtschaft ist die Küche Teil des Schmelztiegels unserer französischen Identität. Sie trägt zu unserer weltweiten Ausstrahlung und unserer Attraktivität für Touristen bei. Ein starkes kulinarisches Frankreich ist für unser Land genauso wichtig wie unsere Modehäuser oder unsere Filmproduktion.
Während in den letzten Tagen des Wahlkampfs zwei politische Visionen von Frankreich aufeinanderprallen, möchte ich meine Präferenz für eine aufgeklärte Vision der französischen Küche und Frankreichs zum Ausdruck bringen. Ich denke dabei an das Manifest des Italieners Filippo Marinetti (1876-1944), der sich bereits 1932, als der Faschismus rumorte, „die futuristische Küche“ vorstellte. Das war vor 90 Jahren und doch ist die Analogie in meinen Augen sehr treffend, denn diese Verbindung zwischen Politik und Küche akzeptiere ich ebenso wie er.
Nach Italien schien mir der Blick nach Spanien ebenso nützlich. Wir haben gerade das Admo-Projekt abgeschlossen, eine spannende Zusammenarbeit mit dem Koch Albert Adrià im Musée du quai Branly-Jacques-Chirac. Es fand ein reger Austausch zwischen Europäern statt, der auch in Zukunft helfen wird, unsere Praxis zu bereichern.
Lassen Sie uns die Augen für die Welt offenhalten. Blicken wir auf eine Küche, die noch erfunden werden muss. Lassen Sie uns auf unsere Stärken vertrauen und entschlossen sein, uns eine positive und aufgeklärte gemeinsame Zukunft vorzustellen. Das ist es, was ich mir für die französische Küche wünsche, die ihre Rolle für kulturellen Einfluss und wirtschaftliche Wertschöpfung voll ausspielt. Dazu rufe ich auch für die Gegenwart auf.“
PS: Filippo Tommaso Marinetti war Schriftsteller, faschistischer Politiker („Wir wollen den Krieg verherrlichen, diese einzige Hygiene der Welt; ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein; wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen“), Begründer des Futurismus (einer avantgardistische Kunstbewegung, die eine neue Kultur schaffen wollte) und seit 1914 enger Weggefährte Mussolinis. Am 15. November 1930 verkündete er im italienischen Radio: „Ich kündige euch die nächste Manifestation der futuristischen Küche zur völligen Erneuerung des italienischen Ernährungssystems an; damit soll so schnell wie möglich die Notwendigkeit ausgedrückt werden, der Rasse neue heroische und dynamische Kräfte einzuflößen. Die futuristische Küche wird von der alten Besessenheit durch Volumen und Gewicht befreit sein; einer ihrer Grundsätze wird die Abschaffung der Pasta asciutta sein. Die Pasta asciutta, so angenehm sie auch für den Gaumen sein mag, ist ein passatistisches Gericht, weil sie schwer macht, vertiert, über ihren Nährwert täuscht, weil sie skeptisch, langsam, pessimistisch stimmt. Der Patriot bevorzugt stattdessen den Reis.“
Am 28. Dezember 1930 veröffentlichte er in der Turiner Gazzetta del Popolo sein „Manifest der futuristischen Küche“. Sie „setzt sich das hohe, edle und gemeinnützige Ziel, die Ernährung unserer Rasse radikal zu ändern, um diese zu stärken, zu dynamisieren und zu spiritualisieren, und zwar durch ganz neue Speisen, bei denen Erfahrung, Intelligenz und Phantasie so wichtig sein werden wie bei den bisherigen Qualität, Einfallslosigkeit, Wiederholung und Preis… Von den sprichwörtlichen Ausnahmen abgesehen, haben sich die Menschen bisher wie Ameisen, Mäuse, Katzen und Ochsen ernährt. Durch uns Futuristen entsteht die erste menschliche Küche, das heißt die Kunst, sich zu ernähren… Wir sind überzeugt, dass in dem zu erwartenden künftigen Weltkrieg das agilste und sprungbereiteste Volk siegen wird; nachdem wir Futuristen die Weltliteratur mit den befreiten Worten und dem Simultanstil entschlackt… haben, setzen wir nun die Nahrung fest, die einem immer luftigeren und schnelleren Leben entspricht.“ In seinen 11 Regeln der futuristische Küche fordert er u.a.
Die unbedingte Originalität der Speisen, welche die traditionellen Zusammenstellungen und Rezeptvorgaben durch das freie Experimentieren mit neuen und scheinbar absurden Kombinationen ersetzt, um mit dieser gelebten Kreativität der mediokren Alltäglichkeit bei der Gaumenfreuden entgegen zu wirken.
Die Abschaffung von Gabel und Messer, damit noch vor der Berührung durch die Lippen das Wohlgefallen der taktilen Berührung gewährt wird.
Die Anwendung der Kunst der Düfte, um die sinnliche Wahrnehmung zu befördern.
Die rasche Aufeinanderfolge der Speisen unter den Nasen und Augen der Gäste, von einigen Speisen, die sie essen, und anderen, die sie nicht essen werden, um die Neugier, die Überraschung und die Phantasie zu beleben.
Die Kreation von simultanen und veränderlichen Bissen oder Konzentraten, die 10, 20 verschiedene Geschmacksmomente enthalten und in wenigen Augenblicken gekostet werden können, um intensivste Eindrücke zu erzeugen.
Die Ausstattung der Küche mit wissenschaftlichen Instrumenten und Technologien: Ozongeneratoren sollen Flüssigkeiten und Speisen Ozongeruch geben, Lampen mit ultraviolettem Licht Nahrungsmittelsubstanzen aktiver machen, Elektrolyseure Säfte und Extrakte zersetzen, Kolloidmühlen Mehle, Trockenfrüchte und Gewürze mit einem sehr hohen Verteilungsgrad pulverisieren…
PPS: Der von Ducasse gewählte Zeitpunkt der Veröffentlichung und das Bekenntnis zu Marinetti könnten darauf schließen lassen, dass er einen Le Pen-Sieg erwartete und endlich Tourismus-Minister würde – ein Amt, das in Frankreich einen gänzlich anderen Stellenwert als in Deutschland hat.
Foto: #alainducasse