Speisekarten repräsentierten schon immer die Werte und den Wandel der Gastronomie. Derzeit muss sie die Pandemiefolgen verdauen und die bewirken auch, dass der kochgewollte Minimalismus des letzten Jahrzehnts wieder der gastfreundlichen Information zu den Gerichten weicht – zumindest im dienstleistungswilligen Amerika. Das US-Foodmagazin Eater beobachtet: „Aufgrund der Realitäten des Restaurantbetriebs nach der Pandemie – darunter weniger Personal – kehren immer mehr Restaurants zu vollständigen Beschreibungen zurück, mit zweizeiligen Details zu Herkunft, Saucen, Kochmethoden und Beilagen.“ Das „hilft ihnen dabei,“ so Guillermo Ramirez, Creative Director der Marketingagentur Gluttonomy in Miami, „Gäste anzulocken“.
Denn die hätten während der Pandemie, als Gerichte zum Mitnehmen die Speisekarte fast außer Kraft setzte, eine tiefere Beziehung zum Essen aufgebaut und wollen nun nicht mehr so passiv sein, wenn sie ein Restaurantangebot anschauen. Außerdem lassen die Personalprobleme der Gastronomie dem Service weniger Zeit, Menüs und Gerichte zu erläutern.
Die Angaben auf den Speisekarten entsprechen seit jeher dem Selbstverständnis der Köche. Greise Gäste erinnern sich noch an drei bis vier Zeilen pro Gericht, mit denen vermittelt werden sollte, was in der Küche alles geleistet wurde. Das wich in den 1990er Jahren dem Drang der Köche, sich durch Hinweis auf Güte und Herkunft ihrer Produkte vom globalen Geiz ist geil-Sortiment der Lebensmittelindustrie abzuheben. Die Gäste sollten bestaunen, wo und wie das Hähnchen Körner pickte, das Kalb artgerecht aufgezogen und das Gemüse biogrün wurde. Das wich dann der nordischen Minimalismusbewegung, die vor 15 Jahren als karges Stakkato die Speisekarten ausdörrte, nachdem das Kopenhagener Restaurant Ensemble auf Kürzel à la Tuna I Rindermark I Spinat kam. Die Gäste durften erst rätseln und sich dann entmündigt fühlen, da Scharen von Star- und Provinzköchen dachten, was der Berliner Marco Müller (mittlerweile 3 Sterne im Rutz) proklamierte: Der Gast sei nicht mehr König, sondern habe sich dem Koch zu fügen.
Nun scheint, zumindest in den USA, der Backlash zu kommen. Einen der Gründe nennt Anna Polonsky, die in New York eine Strategie- und Designberatung für Restaurants und andere Unternehmen betreibt (LVMH, Pernod-Ricard, Nestlé, Forbes): „Ich sehe ein Menü wie jedes romantische Interesse: Ich möchte nicht jedes einzelne Detail auf den ersten Blick wissen, aber ich möchte mich nicht auf ein sechsteiliges Date einlassen müssen, um zu erfahren, womit ich es zu tun habe.“ Nüchtern ergänzt Marketing-Mann Ramirez in Miami: „Die Speisekarte ist wie eine Visitenkarte. Und wenn die Gäste nun wiederkommen dürfen, erwarten und freuen sie sich auf mehr als eine dürftige Angabe.“
Foto: polonsky & friends