Amerikas einflussreichste Zeitung empfahl letzten Dienstag seinem Food-Volk: „Lassen Sie das Sweatshirt zu Hause. Dresscodes beim Essen sind zurück“. Diese Veränderung im Gästeverhalten belegen die Newsmaker mit ihren Erkenntnissen aus einigen der rund 650.000 Restaurants in den USA. Reicht das fürs redaktionelle Fazit: „Nach der Pandemie, in der viele Amerikaner ihre maßgeschneiderten Hosen gegen Freizeitkluft eintauschten, kehren Dresscodes unerwartet in den Speisesaal zurück“?
Den größten Zeugenauftritt hat Angie Mar, 40, Patronne und Küchenchefin des von der Vogue „für mehr als nur fabelhafte französische Küche“ gehypten Les Trois Chevaux im West Village. Das informiert seine Gäste per SMS: „Wir verehren den Stil und die Finesse, die man nur mit New Yorker Stolz verbinden kann. Wir erwarten, dass unsere Gäste in angemessener Abendgarderobe erscheinen und dass Sie den Stil zelebrieren, der im Zentrum von New York City erwartbar ist. Blue Jeans, Shorts und Turnschuhe sind streng verboten. Krawatten sind nicht erforderlich, aber wir bitten Sie, im Restaurant und an der Bar Jackett zu tragen.“ Wer keins anhat, darf sich an der Garderobe eins von Yves Saint Laurent ausleihen.
Gastgeberin Mar betrieb zuvor The Beatrice Inn, in dem sich New York Times-Gastrokritiker Pete Wells „kulinarisch in einem Steakhouse wähnte, das nicht für Männer bestimmt zu sein scheint, und atmosphärisch in einem der festlichsten Restaurants der Stadt“. Zu diesem Ambiente braucht es für die von französischer Klassik begeisterte Frau Mar auch heute wieder „das Old-School-Flair, das ich liebe“. Das schließt bei ihr auch Flip-Flops kategorisch aus sowie Leggins im Capital Grille in Atlanta oder Sportkleidung im Flora in Houston. In letzter Zeit eröffneten mehrere Restaurants mit Richtlinien zur erwarteten Garderobe, mal streng wie Olivetta in Los Angeles („gehobene modische Kleidung ist Pflicht“), mal vage wie Catbird in Dallas („Smart Casual oder besser“), mal herausfordernd wie Kitchen + Cocktails in Chicago („Wir erwarten von unseren Gästen, dass sie ihr Bestes geben“). Für das High-End-Restaurant Thirteen in Houston soll die Kleiderordnung den Restaurantluxus ergänzen: „Wir wollten einen Ort, an dem Menschen ihr Bestes geben. Das Gebäude ist wunderschön. Unsere Tapete ist von Gucci.“ Dabei können Gäste auch übertreiben, wie Casey La Rue im Carte Blanche in Dallas staunte, der in „gehoben lässiger Kleidung“ zum Degustationsmenü bittet. Es kommen so viele Gäste overdressed, dass er ein weiteres Lokal mit einem formelleren Code erwägt. Auch das führt die New York Times darauf zurück, dass „viele Gäste nach einer Epoche der Schlamperei auf Rekordniveau begierig darauf sind, sich wieder schick zu machen“.
Sollte in den USA tatsächlich der Dresscode wieder Thema werden, wird’s debattenreich. Denn „Kleidung steht für viele sehr umstrittene Themen: Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen, Rasse, Klasse, Status“, doziert Richard Thompson Ford, Professor an der Stanford Law School. „Wenn wir nicht wirklich offen über diese Themen sprechen können, führen wir Stellvertreterdebatten wie Kleidung.“ Zudem gilt auch in der gehobenen Gastronomie: keine Regel ohne Ausnahme, beispielsweise für sportliche Kleidung die teuersten Label, für Gäste deren werbewirksame Prominenz. Angie Mar räumt ein: „Wenn Tom Fontana kommt und vergisst eine Jacke, drücken wir ein Auge zu.“ (Er ist Stammgast aus der Nachbarschaft und vielfach preisgekrönter TV-Produzent.)
PS: Zu der vor 30 Jahren in Deutschland aufgekommenen Ansicht, dass Steinbutt mit Anzug und Krawatte nicht besser schmecke, schrieb 1996 Wolfram Siebeck: „Auch ein Violinkonzert klingt nicht besser, wenn die Zuhörer nicht im Jogginganzug im Konzertsaal sitzen. Den Smoking tragen Wagnerianer in Bayreuth ja nicht wegen obsoleter Kleidervorschriften, sondern aus Respekt vor der Leistung der Sänger, des Komponisten und, manchmal, des Regisseurs. Ein Ereignis, das ein kulturelles oder zivilisatorisches Glanzlicht in unsere vulgäre Gegenwart setzt, feiert man nicht in Shorts. Nicht anders ist es dort, wo Meisterköche, von denen es ja auch nicht mehr gibt als große Sopranistinnen und Tenöre, staunenswerte Höchstleistungen erbringen.“
*Das Foto – Courtesy Vogue/Griffin Lipson – zeigt Küchenchef Mar (r.) neben Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour und Designerin Alexandra O’Neill, die u.a. Jill Biden ausstattet, vor einem Essen für 100 Vogue-Gäste am Vorabend der letzten New Yorker Modewoche im Les Trois Chevaux.