„Es gibt sie noch – die Restaurants, in denen man König ist und (fast) glaubt, dass das zweitschönste das schönste sein kann,“ frohlockte der Schriftsteller Hans Habe im Playboy unter dem Titel „Das gute Essen macht den Mann“. Und klärte auch gleich auf, was man dort isst: Der Kenner starrt in den besten Restaurants „die Karte nicht wie eine pornographische Zeichnung an, sondern bestellt regelmäßig die gleichen Speisen, da für andere Exklusivitäten andere Lokale zuständig sind“. Man nehme also Gratin de langoustines bei Lapérouse in Paris, Poularde de Bresse truffée en vessie in der Pyramide in Vienne, Rehrücken im Erbprinz in Ettlingen, das Dessert Cherry jubilée im Giardino in Brissago. Man erhalte aber in Spitzenrestaurants nicht nur deren Spezialitäten. Denn „wenn man bei Maître in Berlin neben der Ente in der Blase pochiert nicht ein schlichtes Filetsteak bekäme, hätten sich nicht einmal die Rolling Stones ins Gästebuch eingetragen.“
Das war 1975 und als Ideal einer Speisekarte im Drei-Sterne-Restaurant galt damals u.a. das Angebot des L’Oustau de la Baumanière in Les-Baux-de-Provence. Aus der konnte man sich, wie „Vogue“-Restaurantkritiker Quentin Crewe rühmte, „obwohl sie gar nicht groß ist, zehn wohlausgewogene Menüs zusammensetzen, ohne dass sich dabei ein Gericht wiederholen würde.“ (16 Vorspeisen, 6 Fisch- bzw. Krustentiergerichte, 10 Fleisch- bzw. Geflügelgerichte; dazu noch 3 Gemüseteller.) Crewe zur Crux der Kartenkomposition: „Es sollte einfache Gerichte geben und ebenso kunstvoll ausgeklügelte. Die Karte muss Neues bieten, doch sollte sie auch alte Lieblingsgerichte von Stammgästen beibehalten. Es muss Gerichte für Gäste geben, die gern üppig und reichlich speisen, und für solche, die gern weniger auf dem Teller haben.“ Und last not least: Wie nahe Gerichte dem Gipfel der Kochkunst auch kommen, sie sollten keinen weniger geschulten Gaumen überfordern. Mit diesem Mix befriedigte die Karte weitgereiste Gourmets, neugierige Touristen und Familien aus der Gegend gleichermaßen – an sieben Tagen in der Woche, mittags wie abends war’s voll.
2020 kann sich das jüngste deutsche Drei-Sterne-Restaurant, das Rutz in Berlin, damit begnügen, lediglich ein achtgängiges Menü anzubieten, das die Gäste um die Kreationen mit Tomaten und Krustentierchen auf sechs verkürzen dürfen. Ansonsten haben sie wunschlos glücklich zu sein, denn für Rutz-Küchenchef Marco Müller „ist der Gast nicht mehr König“. Das Wandeln ist des Müllers Lust und Credo: Er dient als Koch nicht dem Publikumsgeschmack, sondern der Gast habe sich dem Kochgeschmack zu fügen. Müllers Genussfreude bei Erdbeeren mit Muscheln, Holzkohle zu Krabbe, Huhn auf Seegras oder Lärchenholz im Himbeerduft schmeckt so vielen Gästen, dass er mittags gar nicht und abends nur fünfmal die Woche aufsperren muss.
Mit seiner Egozentrik richtet der Minimalist Rutz aus dem Füllhorn des Zeitgeistes an, den der fernsehtaugliche Philosoph Richard David Precht in der FAZ so deutet: „Wir leben in einer Gesellschaft, die uns erlaubt, viel Aufmerksamkeit auf uns selbst zu richten. Sich selbst zu optimieren, schließt die Ernährung ein.“ Was Gästen recht ist, kann also Köchen billig sein.
Gingen Gourmets zwei Jahrhunderte lang in Spitzenrestaurants, um Genussfreude aufzugabeln, müssen sie seit Verteufelung der Stopfgansleber die überkochende Diskussion einer ethisch verantwortbaren Ernährung und seit Ferran Adriàs Enttabuisierung der französischen Küchenklassik die ungehemmten Fantasien von Köchen auslöffeln. Wie sehr bei gesunder, moralischer und nachhaltiger Ernährung schon Political Correctness rezeptiert ist, schmeckte der Pariser Gastrojournalist und Ex-Michelintester Franck Pinay-Rabaroust aktuell ab: „Gutes Essen impliziert zwei Dimensionen: die persönliche und die öffentliche, politische Sphäre. Über die ausgewogene private Ernährung hinaus wird das Essen zunehmend zum politischen und sozialen Akt. Angeführt durch die Medien fordert die Gesellschaft vom Konsumenten, verantwortungsbewusst zu essen. Essen ist wie wählen gehen.“
Zu diesem ethisch bewussten Essen serviert der Denker Precht schalen Beigeschmack: „Wenn jeder sich intensiv um seine Ernährung kümmert, kann ich keinen mehr einladen. Der eine isst das nicht, der andere das nicht, das geht aus diesen und jenen Gründen nicht. Das ist wahnsinnig ungesellig. Dabei hat für die Entwicklung der Ethik das gemeinsame Essen eine wichtige Rolle gespielt.“