1980 kostete ein Premier Cru aus Bordeaux durchschnittlich vier Mal mehr als ein fünftklassiges Gewächs; heute ist das Verhältnis 10:1.
1993 war eine Flasche 1990er Romanée-Conti La Tâche für 285 $ zu haben, nun sind für eine Bouteille des Jahrgangs 2017 rund 5000 € fällig – fast das 18fache. Im gleichen Zeitraum stieg der Preis für eine Birkin 30 Bag, ein Grand Cru der Handtaschen, um knapp das 4fache.
Seit 1948 mussten die Durchschnitts-New Yorker für eine Einstiegs- oder für eine Jahrgangsflasche Champagner von Bollinger, Moët & Chandon und Roederer von Jahr zu Jahr weniger arbeiten, aber für die Luxusmarken müssen sie seit deren Erscheinen (R.D. 1967, Dom Pérignon 1949, Cristal 1949) Jahr für Jahr länger arbeiten.
Solche Zahlen verdankt die vinophile Welt der American Association of Wine Economists (AAWE). Sie wurde 2006 von 5 US-Ökonomen gegründet, stellt und beantwortet Weinfragen aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht und hat Mitglieder in 100 Ländern. Wortmächtigster Verkoster ist ihr Mitbegründer und Präsident (seit 2006) Orley Ashenfelter, als Professor an der renommierten Princeton-University einer der bedeutendsten US-Ökonomen. Zur Preisentwicklung der Premiers Crus im Bordelais kredenzte er diesen süffigen Vergleich: Der Anstieg entspricht der Steigerung der Spitzeneinkommen im Big Business und der Preisentwicklung bei Luxusimmobilien.
Das heißt: Spitzenlagen im Bordelais und auf dem Wohnungsmarkt sind für die meisten Menschen nicht mehr bezahlbar. Und die Reichen, die etwas wollen, ob Premier Cru oder Penthouse, treiben die Preise, bis sie es bekommen – die minder Bemittelten weichen für Luxuswohnungen und entkorken Priorat statt Premiers. Auch die nobelsten Barolo, Brunello di Montalcino oder Cabernet Sauvignon des Napa Valley können sich seit den 90er Jahren immer weniger Weinliebhaber leisten. Damit kein Sozialneid aufkommt, kann man das traditionelle Gesetz von Angebot und Nachfrage anführen: Das gleichbleibende Angebot an Spitzenweinen wird seither auch noch von Chinesen, Russen und im globalen Internet nachgefragt. Ashenfelter kam dabei zu der Erkenntnis: „Damit Einkommensunterschiede zu Preiserhöhungen führen, kann das Angebot nicht steigen. Das ist das Geheimnis von Immobilien und Wein.“
Ungleich mehr Aufmerksamkeit in der Weinwelt erregte er, als ihm Ende der 1980er Jahre die Preise für junge Bordeaux zu hoch erschienen. Er führte das darauf zurück, dass die aufgrund von Geschmackstests prognostizierte Entwicklung eines Jahrgangs zu positiv eingeschätzt würde. Eine verlässlichere Basis schien ihm das Klima und so erarbeitete er aus Wetter- und Preisstatistiken der Bordelais-Jahre 1952 bis 1980 diese Bordeaux-Gleichung:
Q = -12,1454+0,00117WR+0,61640TMP-0,00386*HR
Darin heißt:
Q = Logarithmischer Qualitätsindex
WR = Winterrregen [Oktober bis März] in mm
TMP = Durchschnittstemperatur [Wachstumsphase April bis September] in °C
HR = Regen [Lesezeit August bis September] in mm
Was herauskommt, ist dann der Referenzwert zu 100 vom verheißungsvollen Jahrgang 1961.
Damit brachte Ashenfelter das gesamte Establishment der Weingeschäftswelt gegen sich auf, es empfand seine Wetterfühligkeit als Angriff auf ihre Geschmacks- und Deutungshoheit und reagierte entsprechend – vom pikierten englischen Finesse-Fan Broadbent („ein Sonderling“) über das hysterische Bordeaux-Business bis zum polternden amerikanischen Opulenz-Fan Parker („ein Scharlatan“). Weinpapst Parker, der mit seinen (bis 100 Punkte-) Prognosen die Preise gleichsam ex cathedra bestimmte, diskreditierte die Gleichung „als absurde, haarsträubende Sichtweise eines Neandertalers“.
Doch der Ökonom bekam auch Zuspruch. Zum einen prinzipiell, z.B. von dem Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahnemann: Wenn es um Voraussagen geht, seien Algorithmen oft besser als Experten. Denn das menschliche Gedächtnis ist voreingenommen und wir sind inkonsistent bei der Zusammenfassung komplexer Informationen. „Wann immer wir das menschliche Urteil durch eine Formel ersetzen können, sollten wir es zumindest in Betracht ziehen.“ Zum anderen konkret, weil die Ashenfelter-Gleichung z.B. korrekt prognostizierte, dass der Bordeaux-Jahrgang 1989 ausgezeichnet werde. Parker hingegen verlieh ihm nur 88 Punkte und empfahl, die Weine sofort zu konsumieren und nicht zu lagern. Und Kahnemann lobte den Kollegen: Die Gleichung sei „ein Geschenk des Himmels … die Korrelation zwischen seinen Vorhersagen und den tatsächlichen Preisen liegt bei über 0,90“.
Foto: AAWE