Die Lieferanten des süßen Lebens versprachen 1954 in einer Werbekampagne: „Zucker zaubert Energie“ und lässt den Konsumenten „schlank wie eine Pinie bleiben“. 1965 warben sie, dass Zucker „aus der gesunden Ernährung nicht wegzudenken ist“. Seit 2015 rezeptieren Gesundheitspolitiker und Ernährungsberater, wir sollen im Kampf gegen Übergewicht, Fettleibigkeit und Karies den täglichen Zuckerkonsum von 90 auf 25 Gramm reduzieren, bildhaft ausgedrückt: von 34 auf 8 Stück Würfelzucker. Dafür ist verbal auch Julia Klöckner, doch „die Bundeszuckerministerin kneift und lässt die Junkfood-Industrie gewähren“ (Die Zeit am letzten Mittwoch).
Wenigstens die Schokoladenindustrie tut was und bringt – aus unterschiedlichen Gründen – trendbewusst Schokolade ohne Zucker auf den Markt.
Da der Schokoladenkonsum in Deutschland und der Schweiz insgesamt sinkt, aber bei mehr als nur zart bitterer Schokolade steigt, präsentiert Lindt & Sprüngli kommende Woche seine neueste Tafel gänzlich zuckerfrei: Die „Excellence Cacao Pur“ besteht zu 82 % aus der Bohne und zu 18 % aus dem Fruchtfleisch der Kakaofrucht, das Süße einbringt. Der für seine vollmundige Werbung bekannte Konzern deklariert das Produkt fast schon verkaufshemmend als „Kakaoerzeugnis“.
Denn seine Juristen fanden heraus, dass im deutschen Lebensmittelrecht gemäß der Verordnung über Kakao- und Schokoladenerzeugnisse sowie in der Schweiz laut Anhang 6 der Verordnung des Eidgenössischen Departements des Innern über „Lebensmittel pflanzlicher Herkunft, Pilze und Speisesalz“ die Schokolade „zwingend Zuckerarten“ enthalten muss. Diese Vorschrift bestätigte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen in Bern letzte Woche ohne Wenn und Aber, obwohl es generell dafür eintritt, den Zuckergehalt in Lebensmittel zu reduzieren („Zu hoher Zuckerkonsum kann der Gesundheit schaden“). Das Unternehmen muss also fürchten, mit dem Wort Schokolade beim bürokratischen Staat und der missliebigen Konkurrenz anzuecken.
In seiner Werbung hingegen versagt sich Lindt & Sprüngli, das seine Schokoladenkugeln fürs Fernsehen in ehrfurchtgebietender Handarbeit herstellen lässt und für den Verkauf maschinell mit 4000 Stück pro Minute produziert, weiterhin jede Zurückhaltung: Dort bietet sein Kakaoerzeugnis „eine spektakuläre Geschmacksreise, wie sie Liebhaber dunkler Chocolade noch nicht erlebt haben: Zunächst fruchtig-säuerlich, gefolgt von einer intensiven Cacaonote, hin zu feinen Chocoladen-Nuancen im Abgang“.
Auch Ritter Sport nennt sein Anfang Februar herausgebrachtes neuestes Produkt „Cacao y Nada“ nicht Schokolade, sondern „Kakaofruchttafel“. Ebenfalls aus juristischen Gründen, da das Produkt gleichfalls nur Kakaofrucht enthält und – werbelautstark verkündet – „keinen Zusatz von konventionellem Zucker!“ Für diesen Verzicht hat das Unternehmen einen anderen Ansatz als Lindt & Sprüngli: Für Schokolade mit extremem Kakaoanteil „gibt es sicher Liebhaber – aber seien wir ehrlich: wie Schokolade schmeckt das nicht. Zu bitter, nicht süß genug. Unsere Cacao y Nada ist anders. Sie schmeckt, wie Schokolade schmecken muss. Intensiv kakaoig und angenehm süß. Dafür sorgt eine Art Kakaozucker, der aus dem Fruchtfleisch der Kakaofrucht – der sogenannten Pulpa – gewonnen wird.“
Da Ritter Sport für seinen „Kakao und nichts“ zu lauthals gegen unsinnige staatliche Verordnung aufmuckte („Wenn Wurst aus Erbsen sein darf, braucht Schokolade auch keinen Zucker. Aufwachen!“) fühlte sich Ministerin Klöckner zu einer Klarstellung aufgefordert: „Die Kakaoverordnung begrenzt die Verwendung zuckerhaltiger Zutaten nicht auf bestimmte Zuckerarten. Deshalb müsste ein Produkt, das natürlichen Kakaosaft verwendet, nach Einschätzung unseres Ministeriums auch unter der Bezeichnung Schokolade verkauft werden dürfen.“
Starre Berner Auslegung der Vorschriften hin, flexible Berliner Interpretation her: Das Unternehmen Barry Callebaut, das in diesem Jahr seine „Wholefruit Chocolate“ ebenfalls nur mit Süße aus Fruchtfleisch fertigen will, deklariert das Produkt als Schokolade. Es besorgte sich die Erlaubnis bei der EU und den entsprechenden Behörden anderer Länder – als Ausnahmeregelung bei neuartigen Lebensmitteln.
Foto: Lindt & Sprüngli