„Beim Thema Ernährung gibt es eine allgemeine Kakophonie. Jeder hat eine Meinung,“ bedauert Mathilde Touvier, 41, die Direktorin des Forschungsteams für Ernährungsepidemiologie (EREN) an der Sorbonne. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft hingegen zeichne sich ein Konsens über das französische Programm einer gesunden Ernährung ab (PNNS) ab. Es ist die Synthese internationaler Forschungsarbeiten über die Auswirkungen von industriellen Lebensmitteln, Lebensmittelzusatzstoffen und Lebensmittelverarbeitung auf die Gesundheit. Daraus empfiehlt beispielsweise die Pariser Regierung den Franzosen (das Gleiche, was die 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nahelegen):
Obst und Gemüse mindestens 5mal am Tag zu essen (zum Beispiel 3 Portionen Gemüse und 2 Obst oder 4 Portionen Gemüse und 1 Obst);
Hülsenfrüchte (Linsen, Bohnen, Kichererbsen usw.) mindestens zweimal pro Woche zu verzehren, da sie von Natur aus reich an Ballaststoffen sind;
Fisch, inklusive fettem Fisch (Sardine, Makrele, Hering, Lachs) zweimal wöchentlich zu essen;
Wurstwaren auf 150 g pro Woche zu beschränken;
zuckerhaltige Getränke sowie fettige, zuckerhaltige, salzige und stark verarbeitete Lebensmittel zu begrenzen.
Die Beachtung dieser Regeln hält sich diesseits wie jenseits des Rheins in Grenzen. Die dortigen Zahlen dürften denen hierzulande gleichen: Nur 23 % der Franzosen schaffen die Obst und Gemüse-Ration, 13 % die Hülsenfrüchte, 31 % den Fisch und 37 % die Wurst.
Vom Nachrichtenmagazin Le Point gefragt, wie eine bessere Ernährung erreicht werden kann, antwortete die Ärztin, Professorin für Ernährung und öffentliche Gesundheit sowie Forschungsdirektorin des Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM): „Wir müssen auf zwei Ebenen handeln: individuell und kollektiv. Für den Einzelnen ist eine bessere Kenntnis der Empfehlungen erforderlich. Daher ist es notwendig, das Bewusstsein von Kindern in der Schule, bei Studenten, Angehörigen der Gesundheitsberufe und ganz allgemein der breiten Öffentlichkeit zu schärfen. Aber das reicht nicht. Es müssen Maßnahmen auf kollektiver Ebene ergriffen werden. Ohne eine starke Anreizpolitik, die insbesondere die Werbung für Lebensmittel reguliert, macht es keinen Sinn, uns vorzuschreiben, was wir essen und was wir trinken sollen.“ Politisch müsste beispielsweise die Präsenz von Getränkehändlern mit ihren süßen Limonaden an allen Straßenecken hinterfragt oder die Verpflichtung durchgesetzt werden, mindestens die Hälfte des Platzes in Verkaufsautomaten für abgefülltes Wasser zu reservieren.
Große Hoffnung setzt die Wissenschaftlerin auf die Anreize einer Preispolitik, die Lebensmittel mit einem guten Nutri-Score bevorzugt. Diese Nährwertkennzeichnung in 5 Farben ist maßgeblich vom INSERM entwickelt, 2016 vorgestellt und in Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal bereits eingeführt worden – in Deutschland ist sie im Kommen. Viel Aufklärungs- und Abgewöhnungsarbeit sieht die Ernährungswissenschaftlerin Touvier bei ultraverarbeiteten Produkten und ihren Zusatzstoffen, also den meisten Fertiggerichten der Supermärkte und der Laborküche für Veganer. Die Ärztin Touvier veröffentlichte letzte Woche im British Medical Journal die Ergebnisse einer Studie mit 103 388 Franzosen, dass Süßstoffe aller Art kein gesunder Zuckerersatz sind, sondern die Wahrscheinlichkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 10 % erhöhen. Sie finden sich in gut 23.000 Produkten weltweit.
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